Global Social Witnessing – Globale Zeugenschaft entwickeln – von Dolores Richter
In meinem Vortrag im diesjährigen Sommercamp „Intimität & Transformation“ (https://sommercamp.zegg.de/de/live#day-7) erwähnte ich eine Meditationspraxis, die ich in einer kleinen Gruppe seit mehreren Jahren praktiziere. Da einige Nachfragen kamen, was das ist und wo man sich da anschließen könnte, hier einige Antworten.
Meine persönliche Suche mit Global Social Witnessing war die Frage, wie ein sinnvoller Umgang mit Weltnachrichten aussehen könnte. Ich bin Teil dieser Welt, möchte teilhaben und anteilnehmen an dem, was auf ihr geschieht. Und ich bemerke, wenn ich Nachrichten lese, dass ich mich immer wieder dabei emotional verschließe. Denn es ist schlicht überfordernd, manche Nachrichten an mich heranzulassen. Das ist bestimmt ein sinnvoller Schutz. Aber es gibt auch Nachrichten, denen möchte ich mich stellen, da möchte ich Raum geben, mitfühlen und tiefer wahrnehmen. Dieser Wunsch hat dazu geführt, mich mit dem Global Social Witnessing zu befassen.
Was ist Global Social Witnessing?
Thomas Hübl hat den Begriff geprägt und erklärt ihn so:
„Unsere Erkenntnis ist, dass kollektive Traumata den meisten Konflikten zugrunde liegen – meist unerkannt und oft unbewußt. Nur wenn man das miteinbezieht, ist eine adäquate Heilung und Friedensstiftung möglich. Voraussetzung dafür ist zuallererst die Fähigkeit, ein präzises und umfassendes Bild davon zu erlangen, was überhaupt geschieht. Diesen Erkenntnisprozess nennen wir Global Social Witnessing. Es ist die Fähigkeit, den kulturellen Prozess auch fühlen zu können, und sich mit ihm zu identifizieren. Es ist das Bewusstsein, dass sich der soziale Körper durch uns entwickelt. Das umschließt auch eine Vision dessen, was sich entwickeln kann, und Methoden, die den Weg dahin fördern. …
Ein Mensch, der das Innenleben eines anderen Menschen in sich abbilden kann, bildet die Fähigkeit des Mitgefühls aus. Mitgefühl ist kein rein kognitiver Prozess, sondern eine Komposition aus der physischen, der emotionalen und der mentalen Abbildungsfähigkeit. Die innere Abbildung der Erfahrung eines anderen Menschen in mir schafft echte Anteilnahme, und dadurch einen Handlungsradius, der die Voraussetzung für wirklich heilsames und potentialförderndes Wirken ist. Das ist die Grundlage von Ver-Antwortung.
Das gleiche gilt für den kollektiven Kontext. Wenn wir die Vorgänge und Prozesse, die in der Gesellschaft geschehen, in uns abbilden können, werden wir zu einem erwachsenen und integrierten Bürger einer Nation oder Kultur. Das bedeutet, dass erst wenn ich eine physische, emotionale und mentale Abbildung von Ereignissen in mir erzeugen kann, erst dann kann ich mich wirklich darauf beziehen. Diese Beziehung bewirkt wiederum, dass ich zu einer angemessenen, nicht reaktiven, sondern kreativen Handlung kommen kann. Je mehr ich von den Ereignissen und Prozessen der Kultur, in der ich lebe, ausblende, oder mich davon dissoziieren muss, desto weniger kann ich zu einer adäquaten Antwort und Handlung darauf kommen.“
Kosha Joubert, Mitarbeiterin von Thomas Hübl, bietet eine monatliche Zoom-Veranstaltung in Global Social Witnessing an:
„Im Pocket Project bieten wir alle zwei Wochen einen öffentlichen Call an – einmal Community Calls, in denen Basispraxis zur Vorbereitung für Global Social Witnessing vermittelt werden und einmal die Global Social Witnessing Calls selber, jeden Monat zu einem anderen Thema Mehr info‘s hier: https://pocketproject.org/global-social-witnessing/
Und hier: https://pocketproject.org/community-calls/
Heike Pourian beschreibt die Praxis der Meditationsgruppe in ihrem neuen Buch „Wenn wir wieder wahrnehmen – wach und spürend den Krisen der Welt begegnen“
„Über mehrere Jahre gehörte ich einer Gruppe an, die ausprobierte, wie eine politisch orientierte Meditationspraxis aussehen kann. Einmal die Woche trafen wir uns morgens. Wir kamen – online – zusammen und teilten, welche Aspekte des aktuellen Weltgeschehens uns bewegten, beunruhigten, erschütterten. Meist war sehr eindeutig, welchem Thema wir uns am jeweiligen Tag zuwenden wollten. Dann übten wir, unsere Aufmerksamkeit dorthin zu lenken und dort zu bleiben, auch wenn es schwer zu ertragen war. Und darum ging es ja: den Schmerz der Welt eben nicht aushalten, indem ich mich anspanne und hoffe, dass es schnell vorüber geht, sondern mich öffnen, empfänglich werden, dableiben. Es war keine Meditation im eigentlichen Sinne, kein völliges Leersein, kein Einswerden mit dem universellen Frieden. Auf jeden Fall war das nicht unser Ausgangspunkt oder Zugangsportal. Wir praktizierten vielmehr eine Art von Kontemplation, eine Übung in Präsenz und Öffnung – in jener Qualität, die ich im Kapitel Wahrnehmen beschreibe: die Welt in mir abbilden. War es möglich, jede Woche aufs Neue zu sitzen und anzuerkennen: All das geschieht gerade auf diesem Planeten? Kann ich mir abverlangen, dafür Raum zu schaffen in mir und die →Gewalt der vorenthaltenen Aufmerksamkeit wenigstens einen Hauch zu schmälern – dadurch, dass ich mich zuwende, statt zu ignorieren, auszublenden oder mich abzuspalten? ….“
Zuwenden wurde mir dabei ein wirklich hilfreiches Wort. Ich erlebe es als räumlichen, als körperlichen Vorgang. Ich richtete mich wirklich mit meiner Vorderseite, mit Gesicht und Herz Richtung Südosten aus, als wir uns dem Krieg in Syrien zuwandten. Und als wir uns der Gewalt an Europas Südgrenzen widmeten, setzte ich mich so, dass ich nach Süden schaute. Es war nie vorhersehbar, was dann passieren würde. Zu meinem Erstaunen fand ich mich in der Rolle Europas wieder. Ich war Europa. An meiner Brust prallten Flüchtende ab. Die rigiden Grenzen, Mauern, Zäune, Patrouillen und Schlagbäume bildeten meinen Körperpanzer1, meine verhärtete, verkrustete Angst. Im nächsten Moment stand ich als Grenzpolizist*in da und fühlte meine Dienstmütze, meine Uniform bleiern auf mir lasten – jene Insignien der Macht, die mir das vermeintliche Recht gaben, sicher auf der einen Seite dieser Grenze zu stehen und denen auf der anderen Seite den Zutritt zu verwehren. Ich fühlte die Willkür dieser Grenzen, zu deren Verteidigung ich hier stand und erschrak darüber, wie selbstverständlich wir sie als gegeben hinnehmen. Ich spürte, wie ich mich nicht ausklammern kann aus der Gewalt und Not im Mittelmeer – weder aus der Abschiebungspraxis noch aus den Fluchtursachen. Ich war, ich bin Teil davon. Jede*r in der Gruppe hatte eine ganz eigene Weise, Raum in sich selbst zu schaffen, die Welt zu sich hineinzuholen. Wenn wir nach der vereinbarten Zeit wieder zusammenkamen und von unseren Bildern und Eindrücken erzählten, dann war das, was der Rest des Kreises meinem Erleben hinzufügte, immer eine Bereicherung, eine Perspektiverweiterung. Ich bin an diesen Morgenden zur Weltbürgerin gereift.
Während ich dies schreibe, höre ich die skeptischen Stimmen meiner Leser*innen – vielleicht höre ich sie, weil sie immer wieder auch in mir sind: Und was soll das helfen? Was soll das bringen? Die Menschen ertrinken trotzdem im Mittelmeer. Sie verhungern oder kommen in Kriegen ums Leben. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis wir vertrauen, dass wir auch mit unserer Aufmerksamkeit etwas ausrichten können – auf einer ganz anderen Ebene als der sofortigen unmittelbaren Linderung von Not. Einige aus der Gruppe haben sich dem Projekt Global Social Witnessing2 angeschlossen. Axel Perinchery rief The citizen is present3 ins Leben.
Unsere Treffen veränderten auch meinen Alltag. In Situationen, auf die ich bisher reflexhaft mit Taubwerden reagiert hatte, versuche ich nun, mein Herz zu öffnen für das, was ist – auch wenn ich momentan direkt nichts ändern kann. Ich habe im Kapitel Anerkennen einige dieser kleinen Situationen aufgezählt und bin nicht näher darauf eingegangen, zum Beispiel diese: Ich höre in der Nachbarschaft irgendwo quer über den Hof ein Kind weinen und eine erwachsene Person brüllen. Wie gehe ich heute – nicht immer, aber doch öfter – damit um? Ich versuche, nicht wegzuhören. Wenn ich den Impuls erkenne, mich zu verschließen, mich taub zu machen, lasse ich nicht zu, dass das passiert. Ich nehme innerlich Verbindung mit dem Kind auf und flüstere: „Ich sehe dich. Ich höre dich.“ Ein paar Atemzüge lang übe ich mich in der buddhistischen Praxis des Tonglen4.