Liebe ist mehr!

von Dolores Richter

In dieser komplexen Zeit wächst meine Notwendigkeit,
mich in meinem nahen Umfeld in Freundschaften und Liebesbeziehungen verankern zu können. Ich will mich sortieren, Standpunkte abgleichen, auftanken, meine Perspektive erweitern, Rückmeldungen einholen. – Wir geben uns Raum, unser Erleben zu verarbeiten und unseren Beitrag in der Welt auf verkörperte Weise geben zu können.

Zwischendurch gerate ich allerdings auch mal schnell in ein Hamsterrad von Reaktivität oder Rückzug, drehe mich in inneren Dialogen hin und her. Lieblos.
Wie pflege ich Liebe, wenn sie dann so weit weg scheint?
Wenn sie feststeckt in der Dynamik von Erwartung und Enttäuschung?
Zum Glück ist irgendwo in mir abgespeichert: das ist nicht die Wirklichkeit,

sondern ein Hinweis darauf, dass ich Entspannung und Weitung brauche.

Das kann ein ehrliches Gespräch bewirken, eine Inspiration, oder ich gehe dafür in einer Aufstellung mit Bodenankern durch die sechs Aspekte der Liebe, die ich als Ressourcen meiner Liebesfähigkeit herausgearbeitet habe. Liebe ist so viel mehr.
Liebe hat viele Quellen. Wenn ich das alles von einem Menschen erwarte, kreiert das Stress auf allen Seiten.
Und wie nährend werden Liebe und Freundschaften, wenn wir ich meine Liebesquellen pflege.

Sechs Aspekte der Liebe
( – copyleft von Dolores Richtermit Quellenangabe: doloresrichter.com)

Ich schreibe heute über die Selbstliebe. Die weiteren Aspekte kommen jeweils in einem eigenen Artikel mit dem siebten Teil: das Zusammenspiel. Viel Freude damit!
1. Selbstliebe
Das Bemühen um Selbstliebe ist zunächst ein kulturelles Phänomen und Folge einer entfremdeten Leistungsgesellschaft, in der Performance und Wirtschaftswachstumszwang den Ton vorgeben. Das bedeutet, dass wir anerkennen dürfen, dass ein Selbstwertmangel nicht (nur) unser persönliches Problem ist. Und es bedeutet auch, dass ein nachhaltiges Selbstgefühl auch eine Frage unserer Lebensgestaltung ist.
In letzter Zeit ist mir für das Erfahren von Selbstliebe der Begriff „Selbstkontakt“ näher geworden. Selbstkontakt bedeutet: Ich halte inne, gehe in die Stille, nehme Körper und Atem wahr und lasse mehr und mehr in meinem Bewusstsein auftauchen, was mich im Herzen bewegt. Es entsteht ein Raum, in dem ich meine Innenbewegungen fühlen, bezeugen und halten kann. Ich fühle auf eine Weise, die mich nicht hineinzieht, sondern gleichzeitig fühlt und wahrnimmt. Oft ist das, was da ist, nicht gerade angenehm. Ich spüre vielleicht Mangel, Schmerz, Trauer, Ärger .. Entscheidend ist, dass ich das, was ist, dasein lasse, ohne es ändern zu wollen. Wenn ich das eine Weile halten kann, kann es sein, dass eine Entspannung eintritt, die so ungefähr ausdrückt: ich muss es nicht wegmachen, ich muss es nicht ändern, es hat seinen Platz. In dem wahrnehmenden Bezeugen entsteht Raum, manchmal Wärme, oft Akzeptanz. Ich entspanne mich, weil ich meiner Realität nahe bin. Ich bin im Kontakt mit dem, was ist. Mein Nervensystem entspannt sich, und die Ausgangssituation fühlt sich integrierter an, sie hat weniger Ladung oder weniger Schmerz. Auch fühle ich mich unabhängiger von der auslösenden Person, die mich vorher noch in ihrem Bann hatte.
Das, was ist, wahr-nehmen. Das erlebe ich als Selbstkontakt. Die Instanz in mir stärken, die wahrnimmt. Ich bin im Kontakt mit mir und dadurch in der Lage, im Kontakt mit der Welt oder mit anderen zu sein.

Gelingt das immer? Nein. Manchmal verzweifle ich und denke, alle Errungenschaften dieser Art seien umsonst gewesen und hadere und strauchle wie eh und je. Das sind Momente, wo sich Stress, wenig Qualitätszeit, Funktionieren müssen und ungelöste Konflikte von früher in eine aktuelle Situation wickeln. Um da rauszukommen, brauche ich erstmal wirkliche Muße, körperliche Entspannung, eine andere Umgebung oder/und Menschen, die mich nicht auf Altes festlegen. Manchmal ist es auch ein Gebet, eine Bitte um Hilfe, eine Bewegtwerden durch Musik oder Auslüften in der Natur. Nach und nach tritt dann doch der Zustand ein, wo ich wieder den Kontakt zu mir finde. Und mehr und mehr erinnert sich mein System, dass es einen inneren Ort gibt, in dem meine ganze Komplexität Platz hat und sich sortieren kann.
Ich erfahre, dass ich mich im Selbstkontakt tatsächlich mehr und mehr lieben kann – als eine tägliche Praxis, die nicht zum Ziel hat, irgendwann damit fertig zu sein, aber einen immer festeren, ja soliden Boden bildet.

Ich sehe Selbstkontakt als den Beginn der Reise zur Selbstliebe. Mit der Zeit werden uns unsere Gefühle und Bedürfnisse vertrauter, wir lernen, sie wahrzunehmen und angemessen auszudrücken. Weitere wichtige Bausteine dafür sind wachsende Selbstverantwortung, Potentialentfaltung/Berufung leben, Beitragen, Kultur gestalten.

Es geht bei dem allem nicht um ein Programm zur Selbstoptimierung. Sondern die Erkenntnis, dass unsere Kultur Authentizität nicht fördert, und wir deshalb uns unsere Natürlichkeit zurück erobern müssen. Persönlich und kollektiv: darum ist die Liebe nicht nur ein persönlicher Weg, ich nenne es: Liebe ist ein soziales Kunstwerk.

Die weitere Quellen der Liebe
(siehe oben) werde ich in unregelmäßigen Abständen beschreiben. Ihr findet sie dann auf meiner website (liebeskunstwerk.org), oder bestellt sie bei mir (dolores.richter@posteo.de).
Herzliche Grüße, Dolores Richter

Wenn ihr euer Lieben auf einen umfassenderen Boden stellen, gemeinsam erforschen, ins Leben holen wollt, seid herzlich eingeladen in unsere Jahres-Liebesforschungsgruppe Liebeskunstwerk in 2026 mit Dolores Richter & Michael Anderau
Drei Module á 4 Tage, Beginn 15. April 2025, Anmeldung hier:
https://www.zegg.de/de/veranstaltungen/programm/cf33272b9e4e4b479cdc339754b25439/jahresgruppe-liebeskunstwerk

Geht Sicherheit und Beweglichkeit zusammen?

Viele haben zur Zeit mehr Bedürfnis nach Sicherheit. Dabei begreifen wir Sicherheit als etwas, wo wir uns abgrenzen und schützen müssen (was auch oft genug sein muss). Dennoch suche ich nach einer anderen Bewegung, die Sicherheit ermöglicht.

Im ersten Moment will ich das, was überfordert, weghaben. Wie zum Beispiel unliebsame politische Ansichten oder Andersdenkende. Das würde ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit stärken. Oder ein Gefühl, dass noch irgendetwas stimmt. Mir ist diese Bewegung vertraut und doch entfernt sie uns noch ein Stück weiter von Menschen, die anders ticken.

Die Bewegung, die ich suche
Die Bewegung, die ich suche, und die mir manchmal gelingt, ist, meinen inneren Raum zu vergrößern. Ich spüre, dass da, wo mir etwas zuviel ist, eine Enge oder Abwehr entsteht – und versuche meinen Wahrnehmungsraum so zu weiten, dass das Abgewehrte darin vorkommt und ich mich darauf beziehen kann.

Nehmen wir meine Angst vor einem Konflikt. Im ersten Moment ist er außerhalb von mir und ich will ihn weghaben. Zum Beispiel schiebe ich ihn so weit wie möglich von mir weg, damit ich wenigstens einschlafen kann.
Aber ich kann nicht schlafen. Ich spüre, dass die Anstrengung des Wegschiebens mich wachhält, ja sogar meine Angst vergrößert. Ich versuche, sie da sein zu lassen und auf sie zuzugehen. Mich gar hineinzustellen. Was dann geschieht, ist sehr überraschend: ich stehe im Feuer der Angst als einer Energie, die mir sogar Kraft geben kann. Sie richtet auf und macht wach.
Ich weiß nicht, ob das für jede Situation von Angst gelingen kann, aber im sozialen Bereich ist es mir schon mehrmals gelungen.

Meinen Raum vergrößern
Von da aus nehme ich das, was mir Angst gemacht hat, in meinen Raum, ich nehme es zu mir als einen Teil von mir. Die Anstrengung des Wegschiebens lässt nach. Ich werde weicher. Es taucht ein Gefühl auf, das heißt ungefähr: die Welt findet in mir statt. Was sich dadurch verändert, ist dem Gefühl von Empathie ähnlich, und doch ist es umfassender. Das, wofür ich empathisch bin, bin auch ich. Ich bin nicht mehr getrennt davon und dadurch kommt keine Abgrenzung oder Feindschaft auf.

Letzteres schreibe ich mit Vorsicht, da ich nicht ab sofort frei bin von trennenden Gedanken. Dennoch ist es so in dem Moment, und diese Momente dehnen sich aus. Und je öfter ich diese Raumvergrößerung praktiziere, umso mehr wird das Teil meiner Wirklichkeit. Dann bemerke ich einen trennenden, verurteilenden Gedanken in mir, und es entsteht eine kleine Lücke. Eine Lücke ist eine Chance zu einer neuen Reaktion.

Die Welt findet in mir statt
In diesem Sinn gibt es mir Sicherheit, wenn ich mich mehr und mehr mit mir selbst vertraut mache. Ich finde so vieles in mir wieder, was ich im Außen empörend und verstörend finde. Wenn ich es in mir finde und ihm begegne, fühle ich mich ganzer werden. Es gibt mir Halt. Und noch was: ich habe weniger Angst. Und dieser Halt gibt mir auch eine Haltung dort, wo ich mich im außen abgrenzen und empören muss. Ich stehe klar in meinem Standpunkt, ohne darin neue Feindschaft zu erzeugen.

Ich schreibe dies als eine Person, die mit Leidenschaft forscht, wie Lieben und Frieden gelingen könnten. Die Liebe zwischen Menschen, Mensch und Natur, zwischen Gruppen, Völkern, Nationen. Ganz besonders widme ich mich der Frage, wie Lieben in unseren Liebesbeziehungen gelingt – weil diese sehr stark im Brennglas von persönlichen und kollektiven Dynamiken stehen. Sind doch unsere Partnerschaften, Liebesbeziehungen, intimen Freundschaften unsere Heimat und Halt, die wir dringender denn je brauchen in dieser Zeit. Oder schmerzlich vermissen.

Der größere Raum der Liebenden
Wie können unsere Liebesbeziehungen noch klarer zu einem Ort von Halt und Bezogenheit werden? Und wie kann dieser Ort gleichzeitig weit und lebendig bleiben, damit Eros sich bewegen kann? Ich verstehe Eros als intensive kreative Kraft, die uns anzieht, antreibt, bewegt und lebendig macht. Die ihren Platz braucht, damit die Heimat nicht zu klein wird.
Meine Erfahrung ist ähnlich wie oben beschrieben: auch hier hilft es, den Raum zu vergrößern. Meinen Innenraum, den Raum zwischen uns und den Raum um uns. Wo Liebende sich mit anderen umgeben/zusammentun, sich mitteilen, forschen, sich Einblick geben in ihr Scheitern und Gelingen, entsteht dieser größere Raum, und die Liebe kann atmen. Liebe, die atmen kann, fühlt sich wahrer an und kann viel klarer in unseren Herzen ankommen. Wenn ich gleichzeitig lerne, Liebe in mir ankommen zu lassen, kommt mein Herz zur Ruhe. Das Gefühl von Sicherheit, das damit einhergeht, ist in Absprachen oder Abgrenzungen nicht zu finden. Es ist die Kraft, mich auf Beziehung einzulassen und auf meine und deine Liebe zu vertrauen. Stück für Stück, Tag für Tag ein bisschen mehr.
Was ich beschreibe, ist ein Ausschnitt aus einem Lernweg, den ich die soziale Kunst der Liebe nenne.
Soziale Kunst der Liebe bedeutet, dass ich die Liebe in ihren verschiedenen Aspekten kennenlerne und ihre Quellen Stück für Stück zugänglicher mache. Sie bedeutet ein Training von Selbstkontakt wie die Pflege eines spirituellen Weges. Sie befasst sich mit Sehnsucht, Herzöffnung, Lust und Sexualität genauso wie mit klarem Denken und einem ethischen Leben. Sie bildet unterschiedliche Formen von Gemeinschaft, die unsere Liebesfragen in einen größeren sozialen Kontext stellen. Denn Liebesfähigkeit ist keine individuelle Leistung, sondern ein gemeinsames Erzeugen einer Kultur, die unser Lernen und Wachsen in der Liebe fördert: unser Kontakt zu unserem Körper und unserem Fühlen, Kontakt zu Bedürfnissen und Sehnsüchten; unseren Zugang zu Lust, Lebensfreude und Sexualität wie auch eine nährende Beziehungsfähigkeit.
Nach meiner Erfahrung ist diese Art zu lernen in der Liebe ein Blueprint für Friedensfähigkeit überhaupt. Deshalb teile ich sie gerne, jetzt und gerade heute, in dieser Zeit.

Jahrestraining Liebeskunstwerk Dolores Richter und Michael Anderau
in 3 Modulen. Beginn 15.–19. April 2026 im ZEGG. Bad Belzig

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Sechs Aspekte der Liebe:

Termine 2026 Jahrestraining Liebeskunstwerk

Wir aktivieren wesentliche Aspekte der Liebe, die spirituelle, die sexuelle und die Herzens-Liebe wie auch die Liebe zur Erde und der Natur. Darin eingebettet präzisieren wir die Fähigkeiten und das innere Wissen für ein erfülltes Single-Leben, erfüllte Liebesbeziehungen und eine authentische Liebeskultur. Wir richten uns an Liebesforschende, Gemeinschaftsaktivist*innen, Coaches, Teamer*innen, die eine neue Matrix für Lebenskraft, Eros & Bezogenheit erfahren und gestalten wollen.

Module des Jahrestrainings

15. – 19.04.2026
Selbstkontakt, Anbindung und das erotische Selbst
In präsentem und wohlwollendem Kontakt mit uns selbst können wir Liebe annehmen und Liebe schenken. Wir üben Selbstkontakt, einen heilsamen Umgang mit unliebsamen Aspekten in uns, Ausgerichtetsein und Entscheidungskraft. Wir pflegen unsere spirituelle Anbindung. Die Berührung mit unserem erotischen Selbst schenkt uns die Erfahrung der ganz eigenen erotischen Bewegung in uns. Sie verändert unseren Zugang zu unserer Lebensenergie, macht uns kreativ und aus uns heraus genussfähig. Von da aus kann Liebe bei uns ankommen und wir können spürbare Resonanz geben.

15. – 19.07. 2026
Klarheit, Lust und Intimität in Beziehungen
Nährende Beziehungskommunikation ist das Gold in unserem Lebensalltag. Es ist hilfreich, dass wir Gefühle und Bedürfnisse in uns fühlen und kontaktvoll ausdrücken lernen. Noch relevanter ist unsere Fähigkeit, uns einzulassen. Wo halten wir die Liebe von uns fern, weil Einlassen uns „gefährlich“ erscheint? Was braucht es, um diese Stelle in uns zu entspannen, um Intimität zulassen zu können? Wie können wir unseren Wahrnehmungsraum so weiten, dass wir unsere Partner*innen dort fühlen können, wo sie innerlich gerade sind? Aus dieser Intimität entsteht eine feine und tiefe gemeinsame Lust. Eine Liebesbeziehung kann eine so großartige Forschungsreise sein! Und sie kann unabhängig davon geübt werden, ob wir gerade in einer Partnerschaft sind oder nicht.


07. – 11.10. 2026
Wilder Frieden
Wilder Frieden“ ist eine gemeinsame Reise, in der wir unseren eigenen Anteil an ungesunden Beziehungsdynamiken erkennen und Schritte finden in eine wirkliche Kooperation. Wir belichten persönliche und kollektive Ursachen unserer Verwundungen. Wir dürfen einen ganz eigenen Zugang zu unserer Sexualität und unserem Wunsch nach Beziehung finden und eine Wertekultur in unserem Freundeskreis aufbauen, die das unterstützt. Eingebettet in alle Aspekte der Liebe und mit einer wohlwollenden Ehrlichkeit mit uns und miteinander, kann unser Vertrauen auf einer tieferen Ebene landen, und wir können zum wilden Frieden der Liebenden beitragen.

Global Social Witnessing

Global Social Witnessing – Globale Zeugenschaft entwickeln –  von Dolores Richter

In meinem Vortrag im diesjährigen Sommercamp „Intimität & Transformation“ (https://sommercamp.zegg.de/de/live#day-7) erwähnte ich eine Meditationspraxis, die ich in einer kleinen Gruppe seit mehreren Jahren praktiziere. Da einige Nachfragen kamen, was das ist und wo man sich da anschließen könnte, hier einige Antworten.

Meine persönliche Suche mit Global Social Witnessing war die Frage, wie ein sinnvoller Umgang mit Weltnachrichten aussehen könnte. Ich bin Teil dieser Welt, möchte teilhaben und anteilnehmen an dem, was auf ihr geschieht. Und ich bemerke, wenn ich Nachrichten lese, dass ich mich immer wieder dabei emotional verschließe. Denn es ist schlicht überfordernd, manche Nachrichten an mich heranzulassen. Das ist bestimmt ein sinnvoller Schutz. Aber es gibt auch Nachrichten, denen möchte ich mich stellen, da möchte ich Raum geben, mitfühlen und tiefer wahrnehmen. Dieser Wunsch hat dazu geführt, mich mit dem Global Social Witnessing zu befassen.
 
Was ist Global Social Witnessing?
Thomas Hübl hat den Begriff geprägt und erklärt ihn so:
„Unsere Erkenntnis ist, dass kollektive Traumata den meisten Konflikten zugrunde liegen – meist unerkannt und oft unbewußt. Nur wenn man das miteinbezieht, ist eine adäquate Heilung und Friedensstiftung möglich. Voraussetzung dafür ist zuallererst die Fähigkeit, ein präzises und umfassendes Bild davon zu erlangen, was überhaupt geschieht. Diesen Erkenntnisprozess nennen wir Global Social Witnessing. Es ist die Fähigkeit, den kulturellen Prozess auch fühlen zu können, und sich mit ihm zu identifizieren. Es ist das Bewusstsein, dass sich der soziale Körper durch uns entwickelt. Das umschließt auch eine Vision dessen, was sich entwickeln kann, und Methoden, die den Weg dahin fördern. …
Ein Mensch, der das Innenleben eines anderen Menschen in sich abbilden kann, bildet die Fähigkeit des Mitgefühls aus. Mitgefühl ist kein rein kognitiver Prozess, sondern eine Komposition aus der physischen, der emotionalen und der mentalen Abbildungsfähigkeit. Die innere Abbildung der Erfahrung eines anderen Menschen in mir schafft echte Anteilnahme, und dadurch einen Handlungsradius, der die Voraussetzung für wirklich heilsames und potentialförderndes Wirken ist. Das ist die Grundlage von Ver-Antwortung.

Das gleiche gilt für den kollektiven Kontext. Wenn wir die Vorgänge und Prozesse, die in der Gesellschaft geschehen, in uns abbilden können, werden wir zu einem erwachsenen und integrierten Bürger einer Nation oder Kultur. Das bedeutet, dass erst wenn ich eine physische, emotionale und mentale Abbildung von Ereignissen in mir erzeugen kann, erst dann kann ich mich wirklich darauf beziehen. Diese Beziehung bewirkt wiederum, dass ich zu einer angemessenen, nicht reaktiven, sondern kreativen Handlung kommen kann. Je mehr ich von den Ereignissen und Prozessen der Kultur, in der ich lebe, ausblende, oder mich davon dissoziieren muss, desto weniger kann ich zu einer adäquaten Antwort und Handlung darauf kommen.“

Kosha Joubert, Mitarbeiterin von Thomas Hübl, bietet eine monatliche Zoom-Veranstaltung in Global Social Witnessing an:
„Im Pocket Project bieten wir alle zwei Wochen einen öffentlichen Call an – einmal Community Calls, in denen Basispraxis zur Vorbereitung für Global Social Witnessing vermittelt werden und einmal die Global Social Witnessing Calls selber, jeden Monat zu einem anderen Thema Mehr info‘s hier: https://pocketproject.org/global-social-witnessing/

Und hier: https://pocketproject.org/community-calls/

Heike Pourian beschreibt die Praxis der Meditationsgruppe in ihrem neuen Buch „Wenn wir wieder wahrnehmen – wach und spürend den Krisen der Welt begegnen“

„Über mehrere Jahre gehörte ich einer Gruppe an, die ausprobierte, wie eine politisch orientierte Meditationspraxis aussehen kann. Einmal die Woche trafen wir uns morgens. Wir kamen – online – zusammen und teilten, welche Aspekte des aktuellen Weltgeschehens uns bewegten, beunruhigten, erschütterten. Meist war sehr eindeutig, welchem Thema wir uns am jeweiligen Tag zuwenden wollten. Dann übten wir, unsere Aufmerksamkeit dorthin zu lenken und dort zu bleiben, auch wenn es schwer zu ertragen war. Und darum ging es ja: den Schmerz der Welt eben nicht aushalten, indem ich mich anspanne und hoffe, dass es schnell vorüber geht, sondern mich öffnen, empfänglich werden, dableiben. Es war keine Meditation im eigentlichen Sinne, kein völliges Leersein, kein Einswerden mit dem universellen Frieden. Auf jeden Fall war das nicht unser Ausgangspunkt oder Zugangsportal. Wir praktizierten vielmehr eine Art von Kontemplation, eine Übung in Präsenz und Öffnung – in jener Qualität, die ich im Kapitel Wahrnehmen beschreibe: die Welt in mir abbilden. War es möglich, jede Woche aufs Neue zu sitzen und anzuerkennen: All das geschieht gerade auf diesem Planeten? Kann ich mir abverlangen, dafür Raum zu schaffen in mir und die →Gewalt der vorenthaltenen Aufmerksamkeit wenigstens einen Hauch zu schmälern – dadurch, dass ich mich zuwende, statt zu ignorieren, auszublenden oder mich abzuspalten? ….“

Zuwenden wurde mir dabei ein wirklich hilfreiches Wort. Ich erlebe es als räumlichen, als körperlichen Vorgang. Ich richtete mich wirklich mit meiner Vorderseite, mit Gesicht und Herz Richtung Südosten aus, als wir uns dem Krieg in Syrien zuwandten. Und als wir uns der Gewalt an Europas Südgrenzen widmeten, setzte ich mich so, dass ich nach Süden schaute. Es war nie vorhersehbar, was dann passieren würde. Zu meinem Erstaunen fand ich mich in der Rolle Europas wieder. Ich war Europa. An meiner Brust prallten Flüchtende ab. Die rigiden Grenzen, Mauern, Zäune, Patrouillen und Schlagbäume bildeten meinen Körperpanzer1, meine verhärtete, verkrustete Angst. Im nächsten Moment stand ich als Grenzpolizist*in da und fühlte meine Dienstmütze, meine Uniform bleiern auf mir lasten – jene Insignien der Macht, die mir das vermeintliche Recht gaben, sicher auf der einen Seite dieser Grenze zu stehen und denen auf der anderen Seite den Zutritt zu verwehren. Ich fühlte die Willkür dieser Grenzen, zu deren Verteidigung ich hier stand und erschrak darüber, wie selbstverständlich wir sie als gegeben hinnehmen. Ich spürte, wie ich mich nicht ausklammern kann aus der Gewalt und Not im Mittelmeer – weder aus der Abschiebungspraxis noch aus den Fluchtursachen. Ich war, ich bin Teil davon. Jede*r in der Gruppe hatte eine ganz eigene Weise, Raum in sich selbst zu schaffen, die Welt zu sich hineinzuholen. Wenn wir nach der vereinbarten Zeit wieder zusammenkamen und von unseren Bildern und Eindrücken erzählten, dann war das, was der Rest des Kreises meinem Erleben hinzufügte, immer eine Bereicherung, eine Perspektiverweiterung. Ich bin an diesen Morgenden zur Weltbürgerin gereift.

Während ich dies schreibe, höre ich die skeptischen Stimmen meiner Leser*innen – vielleicht höre ich sie, weil sie immer wieder auch in mir sind: Und was soll das helfen? Was soll das bringen? Die Menschen ertrinken trotzdem im Mittelmeer. Sie verhungern oder kommen in Kriegen ums Leben. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis wir vertrauen, dass wir auch mit unserer Aufmerksamkeit etwas ausrichten können – auf einer ganz anderen Ebene als der sofortigen unmittelbaren Linderung von Not. Einige aus der Gruppe haben sich dem Projekt Global Social Witnessing2 angeschlossen. Axel Perinchery rief The citizen is present3 ins Leben.

Unsere Treffen veränderten auch meinen Alltag. In Situationen, auf die ich bisher reflexhaft mit Taubwerden reagiert hatte, versuche ich nun, mein Herz zu öffnen für das, was ist – auch wenn ich momentan direkt nichts ändern kann. Ich habe im Kapitel Anerkennen einige dieser kleinen Situationen aufgezählt und bin nicht näher darauf eingegangen, zum Beispiel diese: Ich höre in der Nachbarschaft irgendwo quer über den Hof ein Kind weinen und eine erwachsene Person brüllen. Wie gehe ich heute – nicht immer, aber doch öfter – damit um? Ich versuche, nicht wegzuhören. Wenn ich den Impuls erkenne, mich zu verschließen, mich taub zu machen, lasse ich nicht zu, dass das passiert. Ich nehme innerlich Verbindung mit dem Kind auf und flüstere: „Ich sehe dich. Ich höre dich.“ Ein paar Atemzüge lang übe ich mich in der buddhistischen Praxis des Tonglen4.

2https://www.globalsocialwitnessing.org/

3https://www.thecitizenispresent.com/

Inspirationen

1. Vorträge und Artikel von Dolores Richter

Lebendige Gesellschaftsgestaltung – Vortrag an Silvester018 im ZEGG
hier als mp3 zum Anhören    26 min

Was bedeutet Liebe in unserer Zeit?

Liebeskunst – das soziale Kunstwerk der LiebeSEINonline

Der weibliche Beitrag zu einer neuen Liebeskultur –  „connection Spirit“

Quellen einer neuen LiebeskulturFrauen-Männerkongress Oberlethe 2011 youtubeVideo

Kooperativ Führen“ – Workshop bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Das Buch von Dolores Richter:

Das Buch von Dolores Richter
zu beziehen bei ramonasbuchladen.de als ebook: http://www.libri.de/shop/action/productDetails?id=9783732211869

Aus der Renzension von Wolf Bergelt:

Ein Zukunftsbuch: Dolores Richter hat den Weg der Erkenntnis betreten, der keine künstliche Begradigung verträgt, wenn die Neuverwurzelung des Seins gelingen will. Sie ist darüber zur Liebesforscherin geworden, deren Botschaft nichts weniger als eine Vision enthält, in der uns die Liebe als soziales Kunstwerk und erneuernde Zukunftskraft der Menschheit entgegentritt.

2. Artikel von Kolja Güldenberg:

Wie entsteht lebendige Gemeinschaft?
Interview mit Dolores Richter in der OYA 25/2014

Freiheit und VerbindlichkeitErfahrungsbericht von Kolja Güldenberg

Wie entwickeln wir Menschen uns zu kooperativen Wesen, die ihre Potenziale entwickeln?von Kolja Güldenberg im SEIN 2014

3. ZITATESAMMLUNG

  • Dem Bild in seiner Entfaltung beizustehen,
    jeden weiteren Schritt aus ihm zu erfragen,
    geduldig seinen leisesten Regungen zu lauschenund es nicht in seinem Werden durch gewaltsame, übereilte Eingriffe zu gefährden, es zu geleiten, bis es ihn entlässt, das macht den guten Künstler aus.
    Joseph BeuysIch suche nicht, ich finde. Suchen: das ist das Ausgehen von alten Beständen in ein Finden Wollen von bereits Bekanntem im Neuen. Finden, das ist das Völlig Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.
    Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die im Ungeborgenen sich geborgen wissen, die in Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich von Zielen ziehen lassen und nicht menschlich beschränkt das Ziel bestimmen.
    Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis, für jedes neue Erlebnis im Außen und Innen: das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenbarwerden neuer Möglichkeiten erfährt.
    Pablo Picasso
  • Wenn wir von der realen Zukunftsmöglichkeit her zu schauen,
    erschließen sich andere soziale Felder, tiefere Quellen der Kreativität, Muster der Vergangenheit hinter sich lassend. – Die Qualität der Wahrnehmung, die wir in eine Situation einbringen, bedingt die Art, wie Wirklichkeit entsteht.
    Otto Scharmer 
  • Humanität ist nicht außerhalb unserer Triebe und Sehnsüchte, unseres Hungers nach Leben, sondern innerhalb.
    Humanität ist nicht im aseptischen Abseits des mystischen Ostens, nicht in der übergestülpten Energie der universellen Liebe, sondern in den erfaßten, ans Licht gebrachten, integrierten, versöhnten und verfeinerten Triebenergien unserer Seele und unseres Leibes. Humanität ist nicht auf irgendeiner Insel der Schönheit, sondern in der Arbeit an uns selbst, in der Gestaltung unserer Lebensbedingungen, in der Übernahme politischer und allgemeinmenschlicher Verantwortung.
    Human ist schließlich, in sich selbst das Allgemeine zu entdecken und so vor immer weiteren Horizonten ans Werk zu gehen.
    Dieter Duhm, 1988
  • Wahrheit  ist der unmittelbare Kontakt zwischen dem, der wahrnimmt und dem, was wahrgenommen wird.
    Wilhelm Reich
  • Gewalt ist die Eruption blockierter Lebensenergien. Pazifismus ist nicht die sanfte Beschwichtigung der Gewalt und nicht die Beilegung von Konflikten durch Appelle zum Frieden. Wirklicher Pazifismus ist der radikale und intelligente Selbsteinsatz des Menschen für die Befreiung aller in ihm liegenden Lebensenergien und Schöpferkräfte. Pazifismus ist der fundamentale Kampf gegen jede Art von Unterdrückung der menschlichen Sehnsucht. Pazifismus ist kompromisslose Parteinahme fürs Lebendige.
    Pazifismus ist Militanz, nicht unbedingt politische Militanz, aber Militanz in der Erringung innerer Wahrhaftigkeit und Freiheit, denn Pazifismus ist die Versöhnung des Menschen mit sich selbst.
    Dieter Duhm, in „Aufbruch zur neuen Kultur“SELBSTLIEBE:Selbstliebe Artikel Dolores Richter     (Doppelklick-Laden-Doppelklick-Öffnen)Eigenliebe ist der Beginn einer lebenslangen Leidenschaft
    Oscar WildeNur die Eigenliebe beruht immer auf Gegenseitigkeit.
    Wolfgang Mocker

    In der Liebe zu uns selbst liegt das Geheimnis eines erfüllten Lebens.
    Gudrun Kropp

    Liebe Deinen Nächsten nicht so wenig wie Dich selbst. –
    Prof. Dr. med. Gerhard Uhlenbruck

    Nicht die Liebe eines anderen Menschen kann uns letztlich von frühem Ungeliebtsein heilen, sondern die Liebe, die wir uns im Fluß zugewandter Aufmerksamkeit selber geben.
    Peter Schellenbaum, Die Wunde der Ungeliebten

    Gesetzt, wir sagen ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsere Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nötig, um dies eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.
    Friedrich Nietzsche